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Situationen

Ulrich Joho
„DDR. ENDZEIT. Abendliche Heimkehrer. Potsdam, Glienicker Brücke, 11-1989“


Endzeit
 
 
 
August 1988. In Karl-Marx-Stadt haben Kinder die Macht. Die Partei lädt zum Pioniertreffen. Ein buntes, quirliges Bild. Die Kinder sind begeistert, auch unser Sohn. Es gibt sogar wieder Eis am Stiel mit Schokoladenüberzug. Und Fackelzüge in die Nacht hinein und in den Schulquartieren wimmelt es wie im Bienenstock. Es schien mir als sollten wenigstens noch die Kleinen bei der Fahne gehalten werden.
 
Ich hatte Westberlin zuletzt kurz vorm 13. August 1961 erlebt. Wir waren 13, hatten also noch keinen Personalausweis und durften so nicht ohne elterliche Begleitung den Kleinmachnower Grenzübergang nach Düppel passieren.
Doch die so wunderbar glatt asphaltierten Fahrradwege in Berlin-Zehlendorf lockten. Die Grenzer zeigten meist Verständnis, baten uns von der Kneipe am Kino eine Tasche Bier zu holen und mahnten, bis zum Schichtende zurück zu sein.
 
Im November 1989 der erste Grenzübertritt seit damals.
Wir wohnten in Potsdam, fanden mit Mühe in der Berliner Straße einen Parkplatz für unseren verrosteten Wartburg und trotteten mit der Masse zur Glienicker Brücke. Wir waren oft im Park Babelsberg spazieren gewesen und ich dachte: warum hat es nur so lange gedauert, die andere Seite sehen zu dürfen?  Am Brückenende drängten sich Herüberströmende vor einem LKW. Fresspakete wurden heruntergereicht und gierig in Empfang genommen. Weststullen mit Westwurst? Keine Ahnung, was sich in den Beuteln verbarg. Hatten wir etwa Hunger leiden müssen? Es war ekelhaft. 
 
Liebknecht- Forum Potsdam, Dezember 1989.
Das Neue Forum hatte zur Kundgebung gerufen. Tausende waren gekommen, oft mit munteren Sprüchen auf Papptafeln. Otto Schily war im dunkelblauen, langen Tuchmantel erschienen und schien überglücklich, begrüßte mit weit ausgebreiteten Armen „sein“ Volk. Horst Ehmke hatte die Hände in den Taschen seines Trenchcoats vergraben und wirkte verbissen, fast wütend.
Nach den Reden drängten sich Potsdamer nach Autogrammen.
Jene, die erfolgreich waren, hatten einen feuchten Glanz in den Augen.

Aus: DDR. Erinnerungen. 1970 bis 1990

Erschienen bei edition winterwork
 
 
 
Kategorie: Street
Rubrik: Situationen
Hochgeladen: 15.05.2014
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Keywords: DDR, Endzeit, Potsdam,
Glienicker Brücke,
November 1989


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Kommentare zum Bild

Gelöschter Benutzer
15.05.2014

Hallo Ulrich,

ich verfolge seit ich hier bin (09.05.14) Deine Serie über das Leben in der DDR. Selbst ein Ossi (geb.`65 in Dresden, wo ich heute noch lebe), habe ich viele dieser Bilder kennengelernt und kann sie folglich einordnen.
Es sind weniger gute, gute und ausgezeichnete Bilder dabei (dies alles natürlich vor dem Hintergrund der Reportage und manchmal eben nicht nach allen Regeln der Fotokunst abgelichtet).

Was mich wirklich stört, ist, dass unter jedem Bild das gleiche steht! Mich interessiert weniger, was in dem Buch steht, sondern was der Fotograf gedacht hat und/oder wie er heute das Bild bewerten würde.
Es fehlt quasi die persönliche Note- nicht nur wichtig, sondern entscheidend, stellt man solche Bilder ein. Ich würde mir deshalb wünschen, dass Du überlegst, wirklich nur ausgewählte Bilder zu zeigen, von denen Du- auch als Fotograf- überzeugt bist.

Ganz besonders hervorheben möchte ich dieses Bild, sowie "Brunhilde G"- ein ebenfalls außergewöhnliches Bild- GERADE, weil wenigstens eine ganz kurze, Erklärung unter dem Bild stand!!
Der Gesichtsausdruck der Frau- genau im Moment der niederschmetternden Nachricht, diese Resignation...- ganz stark!!
Ich habe beide in meine Favoriten aufgenommen !

LG Ralph

Doris und Michael
15.05.2014

Die Bewegungsunschärfe unterstreicht die mystische Stimmung!
Ein Bild, bei dem man nicht viel sagen muß, es erzählt seine Geschichte allein.
*
gruß Michael

Ulrich Joho
15.05.2014

Hallo Doris und Michael, danke für "es erzählt seine Geschichte allein". Warum habe ich dieses Motiv fotografiert und warum so? eine Frage, die ich mir nicht immer plausibel beantworten kann, hängt ja viel, meine ich, mit der inneren Eistellung und/oder dem jeweiligen psychischen Zustand zusammen. Ich war keiner von jenen, die mit Jubel und Tränen in den Augen die Maueröffnung begrüßt hatten, dankbar West-Fresspakete entgegennahmen oder die Wilmersdorfer Straße in (West)Berlin mit Gratis-Erbsensuppe, die nicht mehr in den Bauch passen wollte, verschmierten (s. Text unterm Foto). Meine Haltung war doch eher nachdenklich. Auch bei diesem Bild der Potsdamer, die an einem trüben Novemberabend als graue Masse zur heimatlichen Straßenbahn strebten.
Herzliche Grüße - Ulrich

Ulrich Joho
15.05.2014

Hallo dekaer,
Du schreibst, Dir fehle in meinen Bildtexten die persönliche Note, vermisst die Information darüber, was ich mir als Fotograf denn bei einem Bild gedacht habe. Ich denke, bei meiner Fotografie spielt von Beginn an (1970) die persönliche Note eine entscheidende Rolle, meine Sicht der Wirklichkeit, die ja schon bei der Motivwahl entscheidend ist (Auge, Herz und Seele - s. Bresson). Und wenn ich in diesem DDR-Kapitel unter fast jedes Foto den gleichen Text setze, so zeige ich hier eben genau meine persönliche Haltung. Bei anderen Kapiteln, etwa Bilder vom Warten oder Flüchtige Porträts. steht eher die Information im Vordergrund. Nun noch zu Deiner Forderung, ich sollte nur ausgewählte Bilder, von denen ich als Foto überzeugt bin, zeigen. Von Motiven, die ich im Album veröffentliche, bin ich auch als Foto überzeugt, sonst würde ich sie den usern nicht zumuten. Dass Du das anders siehst, ist nun wirklich Deine persönliche Sache. Es gibt keine Normen für ein "gutes" Foto (abgesehen vielleicht von technischen Parametern).
Ein Foto spricht mich an, aus welchen Gründen auch immer, oder nicht. So sehe ich das.
Gruß - Ulrich

Gelöschter Benutzer
15.05.2014

Hallo Ulrich,

sicher haben wir ein wenig aneinander vorbeigeredet.
Mir ist aufgefallen, dass kaum jemand im Forum Notiz von Deinen Bildern nimmt, weil niemand etwas kommentiert bzw. sich "traut" ,etwas darauf zu schreiben.
Ich habe das (auch, zusätzlich zur Unwissenheit),auf die "eintönige" Beschreibung (Bitte verzeih dieses Wort, aber es steht nun mal unter jedem Bild der gleiche Text) geschoben.
Wenn das Deine persönlichen Empfindungen sind, dann ist das doch vollkommen in Ordnung! Ich habe zudem nichts gefordert(!), sondern mir nur etwas gewünscht!
Doch ich weiß ja gar nicht, ob Du überhaupt kommunizieren, oder hier nur Deine persönlichen Erinnerungen zur Ansicht bringen möchtest.
Wenn Du das wünschst, werde ich mich künftig Deine Bilder betreffend, zurückhalten.

VG dekaer

Ulrich Joho
15.05.2014

Hallo dekaer,

abschließend: ich möchte in dieser community etwas mitteilen. Und zwar zuerst die Ergebnisse langjähriger Arbeit an mir wichtigen Themen, ob nun, wie jetzt gerade jetzt, meine DDR-Erinnerungen oder mein Projekt "Endstation. Menschen im Pflegeheim", das mir auch sehr am Herzen liegt. Damit falle ich in einer fotocommunity, auch in dieser, die wesentlich von bunten Bildern lebt und in der Kommunikation von Lob und Gegenlob eine wichtige soziale Funktion erfüllt, aus dem Rahmen. Dafür nehme ich das geringe Interesse in Kauf. Dass meine DDR-Bilder in der Redaktion zu einem Beitrag im aktuellen Magazin führten, war für mich eine wunderbare Bestätigung. Ein user, der meinte, er könne mir gegenüber als Oberlehrer auftreten (was er natürlich zurückwies), hatte sich nach kurzem Disput dazu aufgerafft, mir mein eigenes Leben zuzugestehen. Vielleicht gelingt Dir dies auch.