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Begegnungen

Ulrich Joho
„DDR. Menschen am Meer. Heiligendamm 1983“


Endlich: die Ostsee! 
 
Es war ungeheuer aufregend. Wir fuhren zur Ostsee. Der, wesentlich kürzere, Trip von Kleinmachnow zum Rangsdorfer See, der damals in der Kinderzeit noch tief genug war für zaghafte Schwimmversuche, war von mir auch heiß ersehnt. Schon, weil Bittermanns am Weg wohnten und Uli Bittermann mein bester Freund war. Aber Ostsee war eben doch etwas ganz anderes, endlos scheinend, kalt oft auch im Sommer und doch schön. Jede Menge feiner Sand, dessen Tiefen erforscht werden mussten, so weit das Kinderärmchen mit der kleinen Schaufel hinunter reichte. Und immer wieder ein Wunder, wenn sich plötzlich Wasser auf dem Grund sammelte. Ostsee war damals Herumtollen mit dem Vater, der daheim oft erst spät abends von der Arbeit aus Berlin kam, nachts Bücher schrieb und trotzdem immer noch Zeit fand zur guten Nacht ein Märchen zu lesen.
Das Ziel war Ahrenshoop auf dem Darß, der Weg, wegen der nicht so gut ausgebauten Autobahn, etwas länger als heute, was die Spannung aber nur erhöhte. Schon lange vor Ankunft am Urlaubsziel kurbelte ich immer mal wieder das Seitenfenster des F 9 herunter, um die Luft zu testen: Roch sie schon so, wie sie riechen musste? Ganz anders eben als überall sonst? Keine Zeit, die Schuhe auszuziehen. Sand schwappte hinein beim Erstürmen der Düne. Endlich! Da war sie, die ganz andere Landschaft. Gleichmütig Welle um Welle auf den Strand plätschernd mit faszinierender, durch nichts zu erschütternder Regelmäßigkeit. Schnell mit der Hand die Wasserkälte getestet oder doch flugs Schuhe und Strümpfe ausgezogen für die lang ersehnten ersten Schritte im Meer, den Blick aufmerksam gesenkt, um ja keinen ganz außergewöhnlichen Stein zu übersehen. Es war herrlich - wenn es nicht regnete. Die aggressiven Gänse der Familie, bei der uns das Reisebüro untergebracht hatte, nervten mich, weil sie jeden Gang zum Plumpsklo zur Mutprobe werden ließen. Aber Regen war schlimmer. Es gab doch in Ahrenshoop nur dieses eine Schaufenster. Das gehörte zur Kunstkate, die günstig am Haupt-Strandzugang zu finden war. Immer wieder drückten wir uns die Nasen platt und doch war immer nur das Gleiche zu sehen. Einmal fuhren wir, trotz bezahlter zwei Wochen, drei Tage früher heim. Ich weiß nicht mehr, ob mein Vater oder meine Mutter den Vorschlag gemacht hatten, wir  drei sahen es wie eine Erlösung und packten schnell die Koffer. Dem spärlichen, im Reisepreis inbegriffenen Essen musste nicht nachgetrauert werden. Und den beißwütigen Gänsen schon gar nicht. Zu verlockend war die Aussicht, in wenigen Stunden wieder die vertraute Umgebung genießen zu können. Das Boschbecken daheim mit den kratzigen schrägen Betonwänden war ja auch nicht schlecht. Vor allem wegen der Umkleidekabinen, deren trennende Pappwände so wunderbar durchlöchert waren. Und es blieb der Kleinmachnower Düppelpfuhl zum Baden, was in den späten 50-er Jahren wirklich noch möglich war. Manchmal für uns Kinder übrigens eine aufregende Sache – wegen der Krebse, die, so glaubten wir, im Uferschlamm nur darauf lauerten, unsere unschuldigen kleinen Zehen zu zwacken.

Aus: DDR. Erinnerungen. 1970 bis 1990
 
 
 
 
Kategorie: Menschen
Rubrik: Begegnungen
Hochgeladen: 05.05.2014
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Keywords: DDR, Ostsee,
Heiligendamm, 1983


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