Begegnungen
„DDR. Leipzig 1972“
Herrlich anders
Nicht selten senkte sich eine Dunstglocke aus schwefligen Kohlegasen über die alten Häuser mit ihren verkommenen grauen Fassaden. Manchmal stank es. Dann war wohl im nahen Bornaer Braunkohlekraftwerk besonders kräftig eingeheizt worden. Meine kleine Hinterhofbude bei Frida Möckel in der Brandvorwerkstraße 55 parterre erlaubte aus dem einzigen Fenster den Blick auf verbeulte Mülltonnen. Aber ich konnte ja auch die lange Übergardine aus preiswertem rotem Fahnenstoff vorziehen. Die Tapete, bei meinem Einzug im September 1970 mit Flecken übersäht, verschwand schnell unter einer großen Zahl von Veranstaltungsplakaten, die ich mir bei der Konzert- und Gastspieldirektion besorgt hatte. Es war herrlich anders als im heimatlichen idyllischen Kleinmachnow an der südwestlichen Stadtgrenze Berlins. Es war aufregend, mit abgewetzter Lederjacke und aus dem Sperrmüllcontainer gefischten Köfferchen (Krokoimitat) nachts unter düster ziehenden Wolken durch die Straßen Leipzigs zu streifen, eine eigenwillige Romantik. Erholung vom Studium der Grundlagen des Journalismus, von anzufertigenden Exzerpten aus Schriften der Klassiker des Marxismus/ Leninismus, von Vorlesungen über jugoslawische revisionistische Philosophen oder der verblüffenden Mitteilung, der Weltraum habe einen Knick, sei also endlich, damit erkennbar, bewiesen sogar mit mathematischer Formel. Ich kaufte mir eine Praktica L-Spiegelreflexkamera und einen Belichtungsmesser, stöberte durch die Stadt, beobachte eine Oma, die aus einem Abfallbehälter nahe dem Geflügelbratwurst-Stand gegenüber vom Centrum-Warenhaus für ihren Hund Reste klaubte, den Opa, der auf einer Bank im Novemberdunst sein Pfeifchen schmauchte oder den in der Mittagssonne Schlafenden am Sachsenplatz. Und stöberte immer wieder, vom Reiz des Maroden fasziniert, durch Hinterhöfe.
Ulrich Joho. DDR. Erinnerungen 1970 bis 1990
www.ulrich-joho.de
Nicht selten senkte sich eine Dunstglocke aus schwefligen Kohlegasen über die alten Häuser mit ihren verkommenen grauen Fassaden. Manchmal stank es. Dann war wohl im nahen Bornaer Braunkohlekraftwerk besonders kräftig eingeheizt worden. Meine kleine Hinterhofbude bei Frida Möckel in der Brandvorwerkstraße 55 parterre erlaubte aus dem einzigen Fenster den Blick auf verbeulte Mülltonnen. Aber ich konnte ja auch die lange Übergardine aus preiswertem rotem Fahnenstoff vorziehen. Die Tapete, bei meinem Einzug im September 1970 mit Flecken übersäht, verschwand schnell unter einer großen Zahl von Veranstaltungsplakaten, die ich mir bei der Konzert- und Gastspieldirektion besorgt hatte. Es war herrlich anders als im heimatlichen idyllischen Kleinmachnow an der südwestlichen Stadtgrenze Berlins. Es war aufregend, mit abgewetzter Lederjacke und aus dem Sperrmüllcontainer gefischten Köfferchen (Krokoimitat) nachts unter düster ziehenden Wolken durch die Straßen Leipzigs zu streifen, eine eigenwillige Romantik. Erholung vom Studium der Grundlagen des Journalismus, von anzufertigenden Exzerpten aus Schriften der Klassiker des Marxismus/ Leninismus, von Vorlesungen über jugoslawische revisionistische Philosophen oder der verblüffenden Mitteilung, der Weltraum habe einen Knick, sei also endlich, damit erkennbar, bewiesen sogar mit mathematischer Formel. Ich kaufte mir eine Praktica L-Spiegelreflexkamera und einen Belichtungsmesser, stöberte durch die Stadt, beobachte eine Oma, die aus einem Abfallbehälter nahe dem Geflügelbratwurst-Stand gegenüber vom Centrum-Warenhaus für ihren Hund Reste klaubte, den Opa, der auf einer Bank im Novemberdunst sein Pfeifchen schmauchte oder den in der Mittagssonne Schlafenden am Sachsenplatz. Und stöberte immer wieder, vom Reiz des Maroden fasziniert, durch Hinterhöfe.
Ulrich Joho. DDR. Erinnerungen 1970 bis 1990
www.ulrich-joho.de
|
|
Um einen Kommentar zum Bild zu verfassen, musst Du Dich zuerst anmelden oder neu registrieren!